Der kleine Ascheladen

Also available in:

Translated by Johannes Honigmann

Das alte Shanghai starb aus, es verlor drei bis sechs Straßen am Tag. Die moderne Stadt erdrückte und erstickte es mit ihren Wolkenkratzern. Bald, höchstens in einigen Jahren, würde es vollkommen verschwunden sein.
 
Herr und Frau Yao trippelten gerade durch seine engen und überfüllten Gassen. Sie hielt ihre Handtasche mit den Ersparnissen ihrer zweier Leben fest an das Herz gedrückt. Er bahnte ihnen einen Weg durch die Menge, schaute argwöhnisch auf alle und jeden und winkte seine Frau ständig mit einer zittrigen und ungeduldigen Hand zu sich her.
 
Während er sich durch die Massen bohrte, verfluchte der alte Mann die ganze Welt. Er verfluchte insbesondere den unbekannten Verfasser des Stadtplans, auf den er unentwegt schaute und dem nichts in seiner Umgebung entsprach. Schon sechs Mal hatte er sich blamieren und einen dieser unzähligen fliegenden Händler, deren Stände wohl keinen anderen Zweck erfüllten als den, den Fluss dieser wahnsinnigen Menge zu verlangsamen, um Hilfe bitten müssen.
 
Die besagten Händler ergingen sich unweigerlich in endlose Reden von triefender Demut. Sie behaupteten, seit ihrer Geburt auf die unermessliche Ehre gewartet zu haben, so wunderbaren Verlaufenen helfen zu dürfen, und schickten sie dann in irgendeine falsche Richtung.
 
Doch die Beharrlichkeit des Ehepaars und ein außergewöhnliches Glück führten sie schließlich doch zu dem winzigen Laden, den sie seit drei Stunden suchten.
 
Ein kleines Holzschild schwang an einer Kette, einen Meter über einer uralten, wurmstichigen Tür. Darauf war ein Käuzchen gemalt: Das bedeutete, dass man hier im Kontakt zum anderen Ufer stand.
Das Ehepaar blickte sich noch einmal um, dann entschloss sich Herr Yao, an der Tür zu klopfen. Er sprang vor Schreck heftig rückwärts als diese sich plötzlich öffnete, noch bevor er ein zweites Mal dagegen geschlagen hatte. Doch hatte er keine Gelegenheit, das Weite zu suchen, denn eine runzlige Hand, so fest jedoch wie altes Eichenholz, tauchte aus dem Nichts auf, packte den Greis am Kragen und zog ihn hinein. Frau Yao gelang es erstaunlicherweise, buchstäblich durch ihren Mann hindurchzuschlüpfen und vor ihm den Laden zu betreten.
 
Sie brauchten einige Sekunden, um sich an das Dämmerlicht zu gewöhnen und ihren Gastgeber besser zu erkennen. Dieser wartete mit einem festgefrorenen Lächeln ab, dass das alte Paar die Lage erörtert hatte, und verneigte sich dann vor ihm.
 
— Guten Tag, ehrenwerte zukünftige Kunden! Ein Geschäft für das Leben, eins für den Tod. Welche Seite dieser beiden Possen zieht Sie an diesen Ort?
Der Raum, in dem sie gelandet waren, war gefüllt mit dem unglaublichsten Durcheinander. Schildkrötenpanzer, Fächer, Spieldosen, Zigarettenspitzen aus Elfenbein, Opiumpfeifen, und die verschiedensten unzusammenhängenden Gegenstände, die man für gewöhnlich in solchen Orten findet.
— Nun, wir möchten gerne sehen, was Sie uns anbieten können, antwortete Herr Yao. Meine Frau und ich werden bald Shanghai verlassen. Wir wollen ein neues Leben beginnen, ein Leben, wie es uns hier immer verweigert wurde. Sehen Sie, Frau Yao und ich sind Waisenkinder, wir können keine Ahnen ehren und leiden schon immer an dieser Situation. Unsere Freunde verachten uns, unsere Nachbarn verspotten uns insgeheim. Wir werden nach Jiangsu ziehen und hoffen, dort in Ehren unsere Leben zu beschließen.
— Ich verstehe! Ich verstehe! Sie sind hergekommen, um eine Familie, um Ahnen zu finden. Nun, sie hätten keine bessere Wahl treffen können. Vergessen Sie diesen traurigen Krimskrams und lassen Sie uns hinübergehen, in das Geschäft der anderen Welt.
Das Ehepaar folgte Herrn Lee, dem glücklichen Besitzer dieses doppelten Handels, und stieg hinter ihm eine Wendeltreppe hinab, die in einen langen Korridor mündete, der zu dem seltsamsten aller Räume führte.
 
Der Geruch, der dort herrschte, war wie ein Faustschlag in die Magengrube. Herrn Yao, der zwei Kriege überstanden hatte, erinnerte er an Pferdeaas. Seine Frau schien er jedoch nicht zu stören; sie betrachtete mit argwöhnischem Staunen die merkwürdigen Regale dieses ungewöhnlichen Geschäfts.
Wo früher offensichtlich Bücher gestanden hatten, befanden sich jetzt, in einer kuriosen, undefinierbaren geometrischen Anordnung, Begräbnisurnen. Herr Lee ergriff das Wort.
— Sie scheinen überrascht, ehrenwerte Kunden! Ich bin ein sehr bescheidener Händler, der unter der Last einer zahlreichen und undankbaren Familie ächzt, daher habe ich diese altertümlichen Schaukästen anlässlich einer Versteigerung zur Zeit der Kulturrevolution erworben. Einer Revolution die übrigens, was man aus ihrem Namen nicht schließen kann, Kultur als rechtlos und Bücher als Launen untätiger Bürger erklärte. Kommen wir jedoch zur Sache.
— Stammt Ihr Vorrat an Weihrauch etwa ebenfalls aus einer weit zurückliegenden Versteigerung? fragte Herr Yao. Doch Sie haben Recht: zur Sache! Oder vielmehr: zu den Ahnen. Was bieten Sie uns an? Berücksichtigen Sie dabei bitte stets, dass meine Frau und ich hart an der Armutsgrenze leben.
— Nun, wenn Sie einen Altar wünschen, der diesen Namen verdient, ist es selbstverständlich das Mindeste, dass jeder von Ihnen sich einen Vater und eine Mutter zulegt!
— Ganz gewiss!
— Zurzeit führe ich ehemalige Angehörige des Militärs im Sonderangebot! Wie wäre es mit einem General, dem noch von Mao persönlich ein Orden verliehen, und einem Leutnant, der im Großen Krieg verletzt wurde, und dazu zwei Frauen aus dem ehemaligen Adel?
— Beim bloßen Gedanken erschauere ich vor Glück, doch was wird uns ein solches Quartett wohl kosten?
— Nun, angesichts der Tatsache, dass alle unsere Verstorbenen über gültige Papiere verfügen und, dass wir ebenso unanfechtbare Adoptionsurkunden brauchen werden...
— Adoptionsur-ur-urkunden?
Herr Yao musste unfreiwillig stammeln.
— Natürlich, unser Haus macht keine halben Sachen: Ob General oder einfacher Bauer – der bei uns gekaufte Elternteil adoptiert!
— Er ist doch tot!
— Gewiss, doch das Gesetz verbietet nirgends, dass ein Toter jemanden adoptiert! Eine sehr günstige Auslassung, wie sie zugeben müssen. Natürlich werden diese zusätzlichen Kosten mit unserer Leistung verrechnet, doch erwerben Sie dadurch eine vollkommen unangreifbare Abstammung. Natürlich sind alle unsere Waren Endprodukte der Ahnenreihe und kein entfernter Vetter wird Sie jemals fragen, woher Sie plötzlich auftauchen.
— Und der besagte Preis?
— Schauen wir mal! Ein General, ein Leutnant und zwei adelige Damen, dazu Stammbaum und offizielle Adoption, das kostet Sie insgesamt nicht mehr als zwanzigtausend Yuan!
— Zwanzigtausend Yu-yu-yuan! Halten Sie uns für Milliardäre? Und wenn sich meine Frau mit einem unverletzten Unterleutnant und ich mich mit einem General von Chiang Kai-shek begnügte?
— Verräter haben wir nicht auf Lager und unser einziger Unterleutnant wurde ebenfalls verletzt, doch kann ich Ihnen – kostenlos – noch einen heute Morgen eingetroffenen Onkel dazulegen, ein Juwel, ein fast heiliger Shaolin-Mönch.
 
Zwei Stunden später.
— Also fasse ich zusammen! sagte Herr Lee, auf seine Eintragungen blickend. Ein drittrangiger General, ein Hauptmann, eine Halbweltdame und eine Dame aus dem Kleinadel als Eltern. Dazu zwei Onkel, einen Totengräber und unseren Shaolin-Mönch, zwei Nichten, einen Urahn – ebenfalls Geschenk des Hauses –, sowie zwei Vetter, beide an Zuckerkrankheit gestorbene und urheberrechtlich freie Musiker. Macht insgesamt siebzehntausend Yuan.
— Wir hatten uns auf sechzehntausendfünfhundert geeinigt, aber gut, ich bin müde und kann nicht mehr feilschen! Meine liebenswürdige Frau zahlt Ihnen sogleich die Hälfte als Vorkasse aus, den Rest erhalten Sie nach Lieferung der Urnen und der Papiere.
In diesem Augenblick beschloss Frau Yao, die bis dahin methodisch den Inhalt der Regale untersucht hatte, ihre Stimme zu erheben.
— Nein, so nicht!, meinte sie, mit einer verstaubten Urne in der Hand auf sie zugehend. Das Geschäft wird nur beschlossen, wenn dieser grausige Hauptmann gegen diesen wundervollen Dichter ausgetauscht wird, den ich soeben entdeckt habe. Das wird weder verhandelt noch diskutiert und ich nehme ihn gleich mit.
Die beiden Männer mussten nachgeben und seitdem kann Frau Yao ohne Scham Gäste in ihrer beschiedenen Behausung in Jiangsu empfangen und diese am reizvollsten aller Altäre vorbeiführen.
Wobei es dem neugierigen und aufmerksamen Gast nicht entgehen kann, dass der bekannte Dichter Shi Jing in einer funkelnden Urne bescheiden inmitten neben seiner neuer Stieffamilie ruht.

You might also like…