Großvaters Gemälde

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Translated by Tatjana Marwinski

Auf dem Dachboden meiner Großeltern stand ein altes Gemälde. Weder schön, noch hässlich, stellte es einfach nur einen Raum völlig ohne Figuren dar, ein altes Wohnzimmer mit Sessel, Bücherregal und Kamin. Alles war sehr detailliert abgebildet, so sehr, dass man, wenn man im richtigen Abstand davorstand, glauben konnte, das Zimmer sei real. In meiner Kindheit war meine Schlussfolgerung die, dass sein Mangel an Originalität es um seinen Platz an der Wand im Haus gebracht hatte und dass es deshalb seitdem unter dem Dach verstaubte.

Als ich älter wurde, zog ich mich immer seltener nach oben zum Spielen zurück. Aber ich hatte immer noch Freude daran, gelegentlich den alten Plunder meines Großvaters wiederzuentdecken. Mehrmals hatte ich bemerkt, dass das Gemälde neue Details besaß: ein wunderschönes Teeservice, eine neue Kommode, sogar ein Gemälde im Gemälde, außergewöhnlich detailiert dargestellt. Eines Tages beschloss ich nachzufragen: „Du hast mir nie von deinem Maltalent erzählt, Opa, bist du derjenige, der das alte Gemälde auf dem Dachboden überarbeitet?" Er hatte mir lächelnd geantwortet: „Du kennst nicht alle meine kleinen Geheimnisse. Willst du, dass ich dir das Malen beibringe? Es ist einfach, weißt du." Ich hatte freundlich unter dem Vorwand abgelehnt, dass ich bestimmt miserabel sein würde. Er hatte nicht darauf bestanden.

Weitere Jahre vergingen, ich lernte das Erwachsenenleben kennen. Ich arbeitete, ich reiste, das Leben nahm mich voll in Anspruch, ohne dass ich meine Familie so oft wiedersehen konnte, wie ich wollte. Als sich die Gelegenheit ergab, war es bei einem großen Familienessen. Ich freute mich, meine Großeltern wiederzusehen, stets ein Lächeln auf den Lippen, mit ein paar Falten mehr natürlich, aber noch vor Energie strotzend.
Die Zeit verging, das Leben ging weiter, nahm sich aber schließlich auf tragische Weise das, was ihm zustand. Der Tod meines Großvaters erschütterte mich. Die schönen Momente, die wir zusammen verbracht hatten, kreisten endlos in meinem Kopf. Während des Leichenschmauses bei ihnen zuhause verkündete mir meine Großmutter, dass sie hier allein nicht mehr leben wolle und deshalb viele Sachen im Haus weggebe. Sie bot all ihren Kindern und Enkelkindern an, sich das zu nehmen, woran sie hingen. Ohne eine Sekunde zu zögern oder gar meine Frau nach ihrer Meinung zu fragen, beschloss ich, das Gemälde meines Großvaters mitzunehmen, das meine prägendste Erinnerung an ihn war. Die Erinnerungen schwirrten mir durch den Kopf, als ich nach so vielen Jahren zum Dachboden hochstieg. Ich entdeckte überrascht, dass es nicht nur ein, sondern zahlreiche Gemälde gab. Eines schöner als das andere, aber immer möblierte Zimmer, ohne Figuren. Ich nahm den ganzen Bestand mit, indem ich sie verpackte und zuhause abstellte, um sie später zu sortieren.

Als die Trauer vorüber war, machte ich mich eines Sonntags daran, mir die verschiedenen Gemälde genauer anzusehen, lächelnd Großvaters minutiöse Arbeit bewundernd. Aber als ich das mit dem großen Wohnzimmer wiederfand, war ich überrascht zu sehen, dass kleine Elemente ihren Platz gewechselt hatten. Auf mein nicht sehr verlässliches Kindergedächtnis setzend nahm ich an, dass er beschlossen hatte, Details zu ändern, die ihm nicht gefielen. Ich hing das Bild in meinem Arbeitszimmer auf und ließ die anderen beiseite.
Eines Morgens setzte ich mich verschlafen vor meinen Computer, als ich auf einem der Bilder, die auf dem Boden standen, Bewegung zu sehen glaubte. Mich dem besagten Gemälde nähernd – der Darstellung eines Badezimmers – bemerkte ich einen erstaunlichen Effekt der Malerei, der das Wasser bewegte. Sein Maltalent war wirklich außergewöhnlich! Als ich die Perspektiven etwas eingehender untersuchte, nahm ich zum ersten Mal flüchtig den Schatten einer Gestalt wahr. Also hatte Großvater seinen Gemälden schließlich doch noch Leben eingehaucht, vielleicht verbarg sich in den anderen auch welches? Ich beschloss daher, nach Details zu suchen, die mir entgangen waren. Ich stieß auf das Gemälde eines Zimmers, und mir blieb vor Staunen der Mund offenstehen: dort war mein Großvater gemalt, wie er in einem Schrank nach Kleidern suchte. Er hatte sich in seinen Gemälden selbst dargestellt! In dem Moment drehte er sich zu mir um und lächelte mich an. Verdutzt stellte ich das Gemälde ab und trat einen Schritt zurück. Es war unmöglich, ich erinnerte mich nicht, am Vorabend so viel getrunken zu haben, dass ich jetzt in diesem Augenblick halluzinierte. Doch die Malerei bewegte sich erneut, er wandte sich mir zu und grüßte mich. In Hausschuhen und Morgenmantel steuerte die Figur auf einen Rand des Bildes zu und verschwand. Immer noch nicht begreifend, aber von Neugier überwältigt, machte ich mich über die anderen Gemälde her und suchte, wohin er gegangen war. Ich fand ihn auf dem Wohnzimmerbild wieder, das an der Wand hing. Als ich näher herantrat, stellte ich fest, dass er in seinem Sessel Platz genommen hatte und in ein Heft schrieb. Durch welches Verfahren auch immer heftete er auf der anderen Seite des Gemäldes verschiedene Blätter Papier an, auf denen ich mit Mühe feine Schriftzüge erkennen konnte.
Ich suchte in meinen ungeordneten Schubladen und fand schließlich eine alte Lupe, die seit Ewigkeiten nicht mehr benutzt worden war. Mit der Nase ganz nah am Bild entzifferte ich mit großer Mühe die Schriften meines Großvaters: er hatte es geschafft. Nach einem bescheidenen Leben in seinem Landhäuschen fand er sich projiziert in das Haus seiner Träume wieder. Er hatte jeden Raum, jedes Detail entworfen. Er konnte sich nichts Besseres erträumen und hoffte, dass meine Großmutter zu gegebener Zeit zu ihm kommen würde. Es hatte ihn sehr amüsiert, mich seine Welt entdecken zu sehen, und er hoffte, dass er mich nicht zu sehr erschrocken hatte. Er erklärte mir außerdem, dass er, falls ich eines Tages Lust bekommen sollte, noch leere Leinwände und Farbe auf dem Dachboden aufbewahrt hatte. So war es noch möglich, ihm weitere Räume zu schenken, eingerichtet nach meinem Belieben.

Gleich in der folgenden Woche nahm ich alles mit, was von Großvaters Malatelier noch übrig war. Da ich meine Frau nicht erschrecken wollte, behielt ich das Geheimnis für mich. Als ich sie eines Abends überrascht aufschreien hörte, begriff ich, dass es an der Zeit war, es ihr zu erklären. Seitdem habe ich begonnen zu malen. Ich habe verschiedene, mehr oder weniger gelungene Landschaften gemalt. Großvater scheint es zu gefallen. So kann er selbst jetzt noch seine Reisen fortsetzen.

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