In der Nähe vom Fluss Niger liegt eine Stadt, deren Name allein Anlass zum Träumen gibt: das geheimnisvolle Timbuktu. Man erzählt sich, dass Nomaden dort vor langer Zeit einer alten Frau namens ... [+]
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EnglishTranslated by Tatjana Marwinski
Sie heißt Amina. Als Ziegenhirtin des Stammes kennt sie alle Wege und Pfade auf der großen Hochebene aus weißen Steinen, die sich bis zum Horizont erstreckt. Sie geht vorwärts und hüpft über die zerbrochenen, scharfen Kiesel in dieser Weite, in der es weder Bäume noch Gras gibt. Sie weiß ihre Herde zu den Senken zu führen, die das Wasser stauen, dort, wo das Grün noch Bestand hat. Aber dieses Jahr ist kein Regen gekommen. Seit vielen Monaten warten sie auf ihn, hoffen, beten zu Gott, dass er welchen schickt, und suchen den Himmel mit den Augen ab. Werden die dicken schwarzen Wolken kommen, die das Lächeln auf die Gesichter der Erwachsenen zurückbringen würden?
Manchmal, wenn die Sonne ihre sengenden Strahlen herabsendet, flüchtet sie in eine Felsnische und ritzt, zu uralten Gesten zurückfindend, Zeichen in die Kalksteinwände. Sie ist ein Wüstenmädchen! Sie kennt die Tücken und Gefahren: den Skorpion, der den Schwanz aufrichtet, sobald er aufgescheucht wird, bereit, den Eindringling zu stechen. Vor allem fürchtet sie den Wind, den, der aus Osten kommt und dem der Flug der Libellen vorausgeht, die aus ihren Oasen vertrieben zum Ozean fliegen, der in der Ferne tost. In dieser Nacht hat Amina seinen Atem vernommen, sie hat gespürt, wie sich die Zeltplane wie das Segel des Bootes aufgebläht hat. Aber bei Sonnenaufgang ist nur noch eine leichte Brise übrig gewesen, das Tagesgestirn ist in den blauen Himmel aufgestiegen. Trotzdem ist diese Ruhe verdächtig, diese ungewöhnliche Reglosigkeit, so als würde die Natur, die den Atem anhält, warten, bevor sie wieder Luft schöpft. Die Tiere sind unruhig. Scheinbar gleichgültig gegenüber den Anzeichen hat jedes Mitglied der Familie seine Beschäftigung wieder aufgenommen. Gegen Mittag sind einige Insekten herumgewirbelt, die Brise ist stärker geworden und hat ihre Richtung geändert. Aus dem Norden gekommen bläst sie nun aus Osten und hat Wärme mitgebracht. Schnell hat man Ordnung gemacht, die Gerätschaften weggeräumt, die Seile festgezurrt, die Tiere in das geschützte Gehege gesperrt, aber es ist nichts gekommen. Zur Dämmerung hat der Wind abermals die Richtung geändert, und die Sonne ist hinter dunklen Wolken versunken. Dann hat das Gewitter gegrollt. Der Donnervogel hat Hunger! hat Amina gedacht.
Sie hat noch die Legende im Kopf, die ihr ihre Großmutter eines Gewitterabends erzählt hat, als die Angst sie in die Arme ihrer Vorfahrin getrieben hatte. Der Donnervogel ist ein riesiger Vogel, der in einer großen schwarzen Wolke lebt, weit, sehr weit weg im Westen. Wenn ihn der Hunger quält, schwingt er sich auf, um Gazellen oder Wüstenfuchse zu jagen. Bei seinem Flug über das Land erzeugt das Schlagen seiner gewaltigen Flügel ein Grollen, sein mächtiger Atem löst einen Tornado aus, und aus seinen funkelnden Augen schießen Blitze hervor. Wenn er satt und vollgefressen ist, fliegt er zurück in sein Nest, es kehrt wieder Ruhe ein. Die Angst bringt die Kumuluswolken zum Bersten, und der wohltuende Regen ergießt sich über die Wüste.
Amina hofft auf den Donnervogel, aber sie zittert, wenn die zuckenden Blitze das Plateau erhellen.
Plötzlich kommt der Regen; der Regen kommt immer in der Nacht. Die dicken Tropfen fallen und trommeln auf die Khaima. Das Wasser rinnt über die Hügel, und der Regenguss prasselt auf den Boden und vermischt sich mit dem Staub, was einen schönen Geruch von nasser Erde erzeugt. Die Frauen eilen geschäftig hin und her, stellen Behälter auf, um das Wasser des Himmels aufzufangen, die Männer haben bereits den Plan gefasst, die Saat auszubringen. Amina ist glücklich, morgen wird Badetag sein!
Der Stamm wird von einer sanften Musik in den Schlaf gewiegt. Es regnet die ganze Nacht, und bei Tagesanbruch steigt die Sonne in einen völlig blauen, wolkenlosen Himmel auf.
Der Donnervogel hat Mensch und Natur miteinander versöhnt.