Pa' hatte schon immer viel Respekt für Sams Großmutter gehabt. Das lag wohl zum Teil an allem, was sich die Leute aus dem Dorf über sie erzählten. Pa' sagte, dass die Zivilisation die Menschen ... [+]
Translated by Johannes Honigmann
Mima sagte, dass es Opa bald besser gehen würde. Sie wüsste nicht, wie lange es noch dauern würde, aber eins sei gewiss: Es ginge aufwärts. Morgens, sagte sie, nach einer gut durchschlafenen Nacht, komme es vor, dass er ein Wort sprach, eine Hand bewegte. Pauline und ich, wir glaubten ihr nicht recht.
Opas Schlaganfall lag zwei Jahre zurück und außer Mima hatte ihn seitdem keiner die Sachen tun sehen, die sie beschrieb.
Wenn er in seinem Sessel saß, ob im Wohnzimmer oder auf der Terrasse, haben Pauline und ich bei ihm nie eine andere Bewegung festgestellt als die seiner Augen. Die meiste Zeit starrte Opa vor sich hin, den Blick auf einen Punkt geheftet, der irgendwo im Raum schwebt. Doch manchmal blieb sein Blick ganz verzweifelt an unserem haften, und was da in seinen Augen lag... Ich wusste nicht, ob es Wut war oder Angst, oder Hass, aber eins war gewiss: Kein Mensch hätte sich freiwillig mit einem solchen Gefühl in sich selbst einsperren lassen.
Jedes Mal, wenn das Wetter günstig war, setzte Mima Opa auf die Terrasse. Oft nahm er dort seine Vesper zu sich. Pauline, die sich sehr fürsorglich um ihn kümmerte, bereitete Brote mit Schwarzkirschkonfitüre zu. Mima kochte diese immer aus den Früchten, die der große Kirschbaum im Garten fast zentnerweise hergab; Opa hatte sie schon immer geliebt. Pauline zerschnitt die Weißbrotscheiben in kleine Vierecke und schob diese nacheinander in Opas Mund. Er kaute wie ein Automat und manchmal fiel ein Stück aus seinem Mund und auf die Serviette, die um seinen Hals gebunden war. Dann nahm Pauline das Stück und schob es wieder zwischen seine Lippen. Ich fand das eklig. Ich konnte es mir nicht verkneifen und musste das Gesicht verziehen, woraufhin Pauline mich durch ein Stirnrunzeln tadelte.
Meine Aufgabe bei der Vesper war, auf die Wespen achtzugeben, die unvermeidlich von der Konfitüre angelockt wurden. Ich stellte Fallen auf – Plastikflaschen, deren Boden ich mit Konfitüre garnierte, bevor ich sie verkehrt herum aufstellte, wie einen Trichter – dennoch kamen einige Wespen durch. Wodurch sie meine Gebete erfüllten. Mit einem Geschirrtuch in der Hand konnte ich sie mitten im Flug schnappen.
An diesem Tag wurde Mima von einer Wespe gestochen. Wegen mir. Einer dicken, schwerfälligen Wespe, einer Überlebenden vom letzten Jahr. Als ich mit dem Geschirrtuch nach ihr schlug schleuderte ich sie voll auf Mima.
— Deine Schuld, hat Pauline geschrien, du bist einfach unfähig!
Unsere Großmutter hat versucht, den Ernst des Vorfalls herunterzuspielen, aber ich konnte deutlich sehen, dass sie Schmerzen litt. Sie war kreideweiß, sie biss die Zähne zusammen. Ich weinte und flehte, man möge mir verzeihen, Pauline warf mir wütende Blicke zu, Mima war bleich und Opa fuhr fort, mit leerem Mund an einer Brotkugel zu kauen, die schon längst an seiner Serviette klebte.
Weil es vermutlich das Einzige war, das ihr einfiel um die angespannte Lage zu lockern, sagte Mima:
— Kinder, ich muss euren Großvater auf die Toilette bringen.
Opa war schon seit langem unfähig, auf die Toilette zu gehen. Wenn Mima das sagte, meinte sie, dass sie sich um den Beutel kümmern würde, der unter dem Sessel angebracht war.
— Übrigens, fügte sie hinzu, kommt bald ein Gewitter. Ihr solltet lieber ins Haus gehen!
Zur schönen Jahreszeit braute sich in der Gegend immer irgendwo ein Gewitter zusammen, daher konnte Mima mit ihrer Behauptung nicht ganz falsch liegen. Sie hat Opa ins Haus geschoben und Pauline und ich haben den Vespertisch abgeräumt.
Die Wespe zog noch immer ihre Kreise um uns herum. „Die Schlampe erwische ich noch", sagte ich, doch Pauline erwiderte, ich hätte für heute bereits genug angerichtet. Also habe ich die Tischdecke ausgeschüttelt und gefaltet und dann die Gartentür hinter mir zugezogen.
Mima war mit Opa im Badezimmer, und Pauline und ich, nachdem wir das Geschirr abgewaschen und weggeräumt hatten, haben unsere bunten Blätter und das Origamibuch hervorgeholt. Ich fand, dass Mima und Opa schon ziemlich lange im Badezimmer waren, doch ich behielt das für mich, da meine Schwester nicht geneigt schien, irgendeine meiner Bemerkungen zu beachten. Also habe ich mich auf meinen Schwan konzentriert, der die ganze Welt auf seinem Hals zu tragen schien.
Da hörten wir ein Klirren aus dem Badezimmer, wie von einem heruntergefallenen und zersplitterten Glas. Wir haben uns angeschaut, Pauline und ich. Normalerweise hätte Mima etwas sagen sollen um uns zu beruhigen. „Es ist nichts Schlimmes passiert, Kinder. Gott, bin ich ungeschickt!" Aber diesmal kam nichts. Kein Geräusch war zu hören. Pauline hat: „Mima? Alles in Ordnung?" geschrien, und als wir keine Antwort bekamen, sind wir beide gleichzeitig aufgesprungen.
Wir haben die Badezimmertür ohne anzuklopfen aufgestoßen – Pauline lief voraus, ich hinterher, der impliziten Rangordnung aller Geschwisterpaare entsprechend – und haben Mima gesehen, die am Boden lag. Bewegungslos. Pauline ist schnell den Notarzt rufen gegangen. Im Vorbeigehen hat sie mir einen finsteren Blick zugeworfen.
Später, wenn Mima sich auf ihrem Bett wieder erholen würde, würde der Arzt sagen, dass es keinen ersichtlichen Zusammenhang zwischen ihrem Unwohlsein und dem Wespenstich gab; aber auch nichts, was ersichtlich dagegen sprechen würde, würde Pauline zischen, gerade laut genug, dass ich es als Einziger hören würde.
Doch was meinen Geist vorerst beschäftigte, waren die Scherben des Gegenstands, wegen dem wir zu unserer Großmutter gestürzt waren. Die Scherben des Zahnputzbechers lagen auf den Fliesen neben dem Waschbecken verstreut. Auf der entgegengesetzten Seite von der Stelle, an der Mima zu Boden gesunken war, doch unmittelbar neben Opas Sessel.
Da bemerkte ich, wie sich seine Brust rasch hob und senkte, wie wenn man schwer atmet, nachdem man lange gerannt ist. Opa starrte mich an und seine Augen waren voller Tränen. Ich bin zu ihm getreten und habe sie getrocknet. Dann habe ich seine Hand genommen, die leblos zwischen dem Sessel und dem Waschbecken hing, und gesagt:
— Das wird schon noch. Sie erholt sich, sei ganz unbesorgt.