Sie heißt Amina. Als Ziegenhirtin des Stammes kennt sie alle Wege und Pfade auf der großen Hochebene aus weißen Steinen, die sich bis zum Horizont erstreckt. Sie geht vorwärts und hüpft übe ... [+]
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EnglishTranslated by Johannes Honigmann
In der Nähe vom Fluss Niger liegt eine Stadt, deren Name allein Anlass zum Träumen gibt: das geheimnisvolle Timbuktu. Man erzählt sich, dass Nomaden dort vor langer Zeit einer alten Frau namens Buktu die Obhut eines Brunnes anvertraut hätten.
Die Karawanen aus dem Süden, die mit Gold beladen waren, jene aus dem Norden, die Salzplatten mit sich trugen, tauschten dort ihre Frachten aus. So entwickelte sich eine Handelsstadt, die weit über die Grenzen der Sahara hinaus bekannt wurde. Seit diesen fernen Zeiten wird zweimal im Jahr am Rand dieser fabelhaften Stadt eine Salzkarawane organisiert: 800 Kilometer bis nach Taoudeni, diesem erdfarbenen Dorf, in dessen ausgetrocknetem See die Minenarbeiter die ehemaligen Sträflinge ersetzt haben. In dieser feindlichen Umwelt bauen sie das weiße Gold ab, das als bestes Salz der Welt gilt!
Ali, der Vater und Chef des Clans, ein Greis mit gemeißelten Gesichtszügen, hat bereits viele Reisen hinter sich. Es ist für ihn an der Zeit, das Kommando an seinen ältesten Sohn abzutreten. Sofiane ist im besten Mannesalter und trägt mit Stolz den Turban des Stammes.
Die Dromedare, die hier Kamele genannt werden, sind gesattelt. Noch früh am Morgen geht es los. Man muss so weit wie möglich voran, bevor die Sonnenstrahlen den Marschrhythmus verlangsamen.
Zwanzig Tage, um die Hamada, ein felsiges Plateau, und die weiten Sandebenen von Tanezrouft zu durchqueren. Wind, Hitze, Erschöpfung und Furcht lauern den Nomaden auf.
Abends beim Biwak wird mit Reisig von Büschen das Feuer entfacht, mithilfe dessen das Wasser in der Teekanne zum Singen gebracht wird. Der junge Mann beteiligt sich an der Arbeit, von Müdigkeit ist noch nichts zu spüren, er zerstößt Hirse, um die „Dokhn" genannten Fladen herzustellen. Er fühlt sich glücklich, diese Expedition ist für das Überleben der Gruppe unentbehrlich.
Am zweiten Tag erheben sich die Dünen vor ihnen, es fällt nicht immer leicht, diese zu überqueren. Der junge Mann denkt an die Epen von früher und an die Risiken, die sie jetzt erwarten. Eine seltsame Stimmung herrscht in der Gruppe, eine ockerfarbene Wolke erscheint am Horizont: In einigen Stunden wird der Scirocco blasen. Der heiße Wind aus dem Orient, der alles auf seinem Weg austrocknet und sie nicht verschonen wird. Die Männer müssen ihren Cheche festziehen, sich in ihre Djellaba hüllen und die Leine gut festhalten, die sie mit ihrem Kamel verbindet.
Schon wirbelt Staub über dem Boden, die Tiere werden nervös und gehen langsamer. Keine Felswand in Sicht, die Schutz bieten könnte, die Kolonne muss gegen die Plage anmarschieren und so schnell wie möglich zum nächsten Rastpunkt gelangen. Sofiane kennt die Gefahren des Windes: Er verwischt die Spuren, man findet die Meilensteine nicht mehr.
Ali nähert sich und beruhigt ihn:
— Sei unbesorgt, hinter der Dünenkette können wir uns in Sicherheit bringen und das Biwak aufstellen.
Nach einigen Stunden Wegs sind sie endlich an jenem Ort, den sie für die Nacht ausgewählt haben. Die Tiere festbinden, damit sie nicht aus Furch vor dem Sturm flüchten, die Hirse zerstoßen und die Fladen zubereiten, Feuer machen... Die Männer sind mit verschiedenen Aufgaben beschäftigt.
An diesem Abend werden alle diese wiederkehrenden Aufgaben nur langsam erledigt. Alle Gesichter sind von Überdruss und Müdigkeit gezeichnet.
Sofiane sollte schlafen, die Erhohlung ist bitter nötig, doch eingerollt in seiner Decke, betrachtet er den Himmel. Der Wind hat sich gelegt und oben leuchtet der Stern, der ihnen nachts als Wegweiser dient. Wird esihm gelingen, sich auf ihn so zu verlassen, dass er seinen ganzen Stamm zur Mine führt?
— Sofiane!
Neben ihm steht eine alte Frau.
— Wer bist du?
— Ich bin Buktu, die Hüterin des Brunnens, und seit vielen, vielen Monden Beschützerin deines Clans. Einst haben mich die Deinen beschützt, heute bin ich es, die euch helfen will. Wenn morgen der Sturm wieder tobt, wenn die Zeichen, die euch den Weg weisen, nicht mehr zu sehen sind, bleibe tapfer! Vertraue mir, ich werde euch führen.
— Aber wie?
Sofiane reibt sich verblüfft die Augen.
Es ist niemand da, die alte Frau hat sich in Luft aufgelöst!
Hat er nur geträumt? Im Mondschein leuchtet ein weißer Kieselstein auf, der auf dem Boden liegt. Der junge Mann nimmt ihn mit beiden Händen, er streichelt ihn lange. Seine Augen schließen sich und er sinkt in einen tiefen, wohltuenden Schlaf.
Sobald die Morgenröte beginnt, macht sich die Karawane wieder auf den Weg.
— Ao! Ao! Du kannst weitergehen! ruft der Kameltreiber mit kehliger Stimme.
Schon jetzt wirbelt sich der Staub auf, die Sandkörner stechen im Gesicht.Dieser Tag verspircht gefährlich zu werden. Sofiane ist an Ali heran geritten, er spürt dessen Anspannung, dessen Müdigkeit. Ali ist ein alter Mann, ein Chibani, wie die Nomaden ihn ehrfurchtsvoll nennen. Lange war er der Führer der Salzkarawane, und vor ihm waren es sein Vater, sein Großvater und sein Urgroßvater, doch heute ist er angesichts der entfesselten Winde besorgt.
— Akaaba! ruft der Mann an der Spitze des Zuges. Ich kann die Zeichen nicht mehr sehen!
Sofiane drückt angsterfüllt den Kieselstein in seiner Tasche. Plötzlich empfindet er einen unglaublichen Wagemut.
Dort hinten, am Horizont, erahnt er die Vertiefung zwischen den Dünen, durch die sie, wie durch einen Gebirgspass, aus dem Erg herauskönnen. Das ist der Durchgang, den sie suchten. Doch werden seine Gefährten ihm glauben? Ist er nicht das Opfer einer Fata Morgana, dieser Gefahr, die auf unerfahrene Reisende lauert?
— Vater! Vater! Schau!
Er streckt den Arm aus, in seiner Hand erstrahlt der Kiesel im Sonnenlicht.
Der Greis begreift, die Zeit ist gekommen, dass er sich zur Ruhe setzt, diese Reise wird seine letzte sein und sein Sohn wird die Tradition fortführen.
„Bleibe tapfer und vertraue mir!" hatte Buktu gesagt. Er weiß, dass sie ganz in seiner Nähe ist, er muss die Anderen überzeugen. Das ist nicht einfach, die Diskussion wird hitzig. Die Vorschläge gehen auseinander.
Er macht einen Schritt nach vorn und weist mit einer festentschlossenen Stimme, die er selber nicht wiedererkennt, in die anzunehmende Richtung.
— Geradeaus! Schnell, wir müssen durch, bevor der Wind wieder zulegt!
Langsam gerät die Kolonne in Bewegung. Sofiane schöpft seine Kraft aus dem Talisman, den ihm Buktu geschenkt hat.
„Bleibe tapfer und vertraue mir!" hatte sie gesagt.
Die Karawane kommt ungehindert voran, die Dünen scheinen sich vor ihr zu öffnen und der Orkan legt sich.
Abends am Lagerfeuer ruft der Vater seinem Sohn zu:
— Denk daran, man soll nie zweifeln!
Bald werden sie die Hirse gegen die schweren Salzplatten eintauschen. Auf dem langen und hindernisreichen Rückweg zieht die Karawane voran. Die von Müdigkeit gebückten Männer mit von der Sonne geröteten Augen folgen dem jungen, kühnen Mann; er hat seine Rolle als Anführer verdient.
In einigen Wochen werden im mythischen Timbuktu Tänze und Freudenschreie die Männer und die Tiere feiern, denen die Durchquerung der Wüste gelungen ist.
Die Menschen werden sich vor Sofiane verneigen und seinen Mut und seine Kaltblütigkeit preisen.
„Vertraue mir!"
Und in seiner Hand glänzt der weiße Kieselstein.