Die Versprechen der Morgendämmerung

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Translated by Johannes Honigmann

Die Hufen des Hengstes hämmerten den Boden in zügellosem Galopp, die Reiterin lag auf seinem Hals. Ohne Sattel oder Kandare flog das Reittier frei dahin, mit flatternder Mähne. Die Nacht hüllte die Welt in ihren dunklen Umhang. Der blonde und runde Mond zog seines Weges, seine unbeirrbare Kurve von Westen nach Osten, von einem Berg zum Nächsten.
Die Schatten krochen behände, um ein Haar hätten sie die nackten Füße des Hengstes verschlungen, dieser warf sich noch schneller nach vorne, die Frau klammerte sich an sein Haar, in dem ihre Finger tief steckten. Schweiß rann ihren Rücken und ihre Stirn herunter, sie keuchte, ihr Blick voraus war wild entschlossen. Keine Rast war ihnen gestattet, sie mussten unermüdlich rennen, für immer und ewig, niemals anhalten, um den Schatten zu entfliehen. 
Plötzlich ein Leuchten, ein Versprechen, in der Ferne. Die Frau lächelte, dabei rann eine Träne ihre Wange herunter. Der Hengst verlangsamte den Schritt, die Schatten zogen sich nach und nach zurück. Hinter den Bergen im Osten grüßte sie ein scheuer Strahl. Der Hengst hielt an und begann zu grasen, die Frau glitt von seinem Rücken herab und umarmte den schaumbedeckten Hals ihres Reittiers. Die Nase im dichten Haar, die Finger auf die warme Haut gepresst, ließ sie alle ihre Tränen fließen.
Der Hengst hob den Kopf und legte sich auf den Boden, die Frau tat es ihm gleich. Sein Atem wurde gleichmäßiger. Er zog seine Beine zusammen und legte seinen schweren Kopf auf die Knie seiner aufgelösten Begleiterin. Ein neuer Sonnenstrahl vertrieb die Schatten, ein weiterer vertrieb die Nacht. Und während die Morgendämmerung ihr Versprechen hielt, gab der Hengst seinen letzten Atemzug von sich.
Der Körper auf den Knien der Frau wurde schwerer, dann löste er sich langsam in Dunst auf, fortgetragen von einer unsichtbaren Brise. An derselben Stelle bildete sich kurz darauf aus feinen, wogenden Dunst der Körper eines durchaus lebendigen und lächelnden Mannes. Er stand auf, ergriff die Hände seiner Geliebten, zog sanft ihr Gesicht an sich und küsste sie auf die Lippen. Er küsste ihre nassen Wangen, ihre feuchten Lider, streichelte ihr verworrenes Haar und drückte ihren schmerzenden Körper an sich. Die beiden Liebenden umarmten und liebten sich so lange die Minuten währten, die ihnen die Morgendämmerung jeden Tag ihrer Verwünschung versprach, bevor der helle Tag sie wieder gewaltsam voneinander trennte.
Plötzlich windete sich die Gefährtin in seinen kraftvollen Armen vor Schmerz, den Kopf nach hinten geworfen, den Mund wie zu einem Schrei geöffnet, der jedoch niemals kam. Der Mann hielt sie so fest er konnte, nun wurde er von bitterem Schluchzen geschüttelt, er wisperte Worte des Trosts, betonte seine unerschütterliche Liebe. Als der Sonnenball ganz über den Bergen erschienen war, gab der Körper der Frau vollkommen nach und sackte entseelt in den Armen ihres Liebhabers zusammen. Ein dichter Nebel hüllte sie ein und trug ihre menschliche Hülle fort. Der Mann stand seufzend und mit schwankenden Beinen auf, und schaute unbestimmt in den Nebel, der ihn umgab.
Schritte näherten sich in einem gleichmäßigen Vierertakt. Der Mann hörte ein Schnauben, spürte einen warmen Atem an seiner Hand und lächelte schief. Die Stute legte ihre Nüstern auf die Brust des Mannes. Dieser packte einen Büschel Haare und sprang auf den Rücken des Tiers. In der Ferne erhoben sich Stimmen im Nebel. Bald tauchten bedrohliche Fackeln und Forken auf. Das Paar machte sich wieder auf den Weg und folgte dem Lauf der Sonne, ihrer unbeirrbaren Kurve von Osten nach Westen, von einem Berg zum Nächsten.

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